Bock-Kolumne vom Oktober 2022 – «Kulturelle Aneignung» – mit diesem Vorwurf sehen sich plötzlich verschiedene Schweizer Künstler, aber auch Privatpersonen konfrontiert. In dieser Kolumne greife ich ein Thema auf, bei welchem man seine Worte bewusster wählen muss als sonst, um nicht als ignorant oder gar als rassistisch abgestempelt zu werden. Ich nehme die Herausforderung an. Denn es findet gerade eine gesellschaftliche Entwicklung statt, die unseren freiheitlichen Grundwerten, für die ich mich aus Überzeugung einsetze, diametral entgegensteht.
Beginnen wir von vorne. Der Vorwurf der kulturellen Aneignung ist Teil der im Verlauf des letzten Jahrzehnts vor allem in den USA stark aufgekommenen «Wokeness». «Woke» ist ein im afroamerikanischen Englisch in den 1930er Jahren entstandener Ausdruck, der ein „erwachtes“ Bewusstsein für mangelnde soziale Gerechtigkeit und Rassismus beschreibt. Grundsätzlich also die Bezeichnung einer gesellschaftlich sehr relevanten Entwicklung, welche Gleichberechtigung und Freiheiten aller Individuen fordert.
Doch die aktuelle Diskussion um kulturelle Aneignungen ist in meinen Augen das genaue Gegenteil von Gleichberechtigung und Freiheit. Plötzlich wird nämlich die bekannte Komikerin Nadeschkin oder eine unbescholtene Schweizer Reggaeband an den Pranger gestellt. Der Vorwurf? Mit dem Tragen von Dreadlocks sowie – im Falle der Band – dem Spielen von indigener jamaikanischer Musik hätten sie sich «als Angehörige einer herrschenden Kultur illegitimerweise schöpferische Errungenschaften einer unterdrückten, ehemals versklavten Kultur angeeignet». Kurz gesagt: Weisse dürfen keine Dreadlocks tragen. Und auch keinen Reggae spielen.
«Herrschende Kultur?» «Unterdrückte, ehemals versklavte Kultur?» Für mich gehören diese Definitionen von Bevölkerungsgruppen definitiv nicht in die Schweiz des 21. Jahrhunderts.
Um historische Kontexte zu verstehen, sind derartige Beschreibungen selbstverständlich wichtig. Doch im Hier und Jetzt haben sie nichts zu suchen. Ich will in einer Schweiz leben, in der jeder stolz auf seine eigene Geschichte sein kann. Ich will in einer Schweiz leben, in der keiner die Augen davor verschliesst, was Kulturen, Länder und am Ende einzelne Menschen einander angetan haben und es leider bis heute noch tun. Ich will aber auch in einer Schweiz leben, in der jeder die Freiheit geniesst, jene Frisur zu tragen und jene Musik zu machen, die er möchte. Der Vorwurf der «kulturellen Aneignung» hat die Macht, gefährliche Mauern zu errichten, die uns trennen. Lassen wir das nicht zu, sondern feiern wir gemeinsam die Vielfalt unserer Gesellschaft – jeder, wie er möchte.